Europas strategischer Selbstmord

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Geopolitica, Mai 2021

Die zunehmende Stärke der Volksrepublik China – in wirtschaftlicher, technologischer und militärischer Hinsicht, aber auch bezüglich ihres Wandels von einem autoritären zu einem totalitären Regime – ist im Hinblick auf die Bewahrung eines globalen Umfelds, das auf Freiheit (und Freiheiten) basiert, die erste Herausforderung für die freie Welt – und damit für Europa.

Die zweite Herausforderung ist das zunehmende Stör- bzws. Schadenspotenzial der Russischen Föderation, eine Macht, die sich nicht so sehr in einer neuen militärischen Bedrohung für die Union niederschlägt – aufgrund der großen strategischen Umstrukturierung des Nordatlantikpakts -, sondern sich vielmehr darin zeigt, dass sie den Interessen der Europäischen Union (und ihrer Mitgliedstaaten) beträchtlichen Schaden zufügen kann: Nicht nur in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft, in der Ukraine, in Belarus, im Südkaukasus, im Nahen Osten und im Maghreb, sondern auch in Afrika.

Angesichts dieser beiden großen existenziellen Herausforderungen im Bereich der Sicherheit sind die Länder der Union weitgehend gespalten. Viele von ihnen zeigen dieselben Reflexe, die bereits während des Kalten Krieges bestanden, d. h. eine – für einige überzeugte, für andere „träge“ – Teilnahme an der Verteidigungsstrategie gegen die Erbin der Sowjetunion. Mit anderen Worten: Eine Verteidigungsstrategie, die von den und um die USA herum organisiert wird. Das sich verändernde Wesen der russischen Bedrohung scheint ihnen zu entgehen. Es handelt sich nicht mehr um eine direkte Bedrohung der territorialen Integrität der Mitgliedstaaten, die eine verteidigungspolitische Reaktion erfordert, zumal diese ausreichend von der NATO gewährleistet wird. Vielmehr sind es die strategischen Interessen der Union und ihrer Mitgliedstaaten, die bedroht werden. Diese neuen Gefahren erfordern sicherheitspolitische Antworten. Zu den strategischen Interessen der Union und ihrer Mitgliedstaaten gehört auch die Notwendigkeit, die politische Integrität der Union zu bewahren und damit den internen Destabilisierungs-Operationen der Mitgliedstaaten selbst, sowie denjenigen entgegenzuwirken, die darauf abzielen, die Existenzberechtigung der Union mit Hilfe alter (Korruption, Übernahmen, Desinformation usw.) und neuer (u. a. Cyber-)Instrumente in Frage zu stellen.

Vor allem verfolgt die Russische Föderation eine Politik, die mehr Kontrolle über die Energieversorgungswege der EU-Länder gewinnen will. Dies gilt für den Osten der Union, und insbesondere den Bau der Pipeline Nord Stream 2, der die direkte Abhängigkeit der Union von Russland erhöht, und gleichzeitig ein wichtiges osteuropäisches Land – die Ukraine – schwächt, die bisher eine wichtige Transitstrecke für russisches Gas darstellte. Gleiches gilt aber auch für den Süden der Union. Russland ging als großer Gewinner aus dem jüngsten Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien hervor und stärkte – durch seine Präsenz in Berg-Karabach – seine Fähigkeit, den Korridor Baku-Tiflis-Schwarzes Meer 1 und einen hypothetischen Korridor Baku-Armenien-Türkei abzuriegeln. Ebenso hat Russland im Süden – durch die beträchtliche Verstärkung seiner militärischen Präsenz in Syrien – für viele Jahre jedes Projekt zum Bau von Öl- oder Gaspipelines neutralisiert, das die arabische Halbinsel über Syrien direkt mit dem Mittelmeer verbinden sollte. Damit hat es sich gleichzeitig die Fähigkeit verschafft, direkt und in kürzester Zeit im gesamten Mittelmeerraum zu intervenieren, angefangen mit Libyen.

Die große amerikanische Wende – die Verlagerung in den Pazifik – die von der Obama-Regierung begonnen und von Präsident Trump fortgesetzt wurde, ist nichts anderes als die Anerkennung dieser Verlagerung des Epizentrums der strategischen Bedrohung von Moskau nach Peking. Mit anderen Worten: Es ist weder eine Manifestation des Desinteresses an Europa noch eine Abkehr der USA von Europa. Die Europäer wären gut beraten, dies zur Kenntnis zu nehmen und von ihren Allüren als betrogene Liebenden Abstand zu nehmen. Diese große Verschiebung betrifft auch sie, und zwar in erster Linie. Dafür gibt es mindestens zwei Gründe:

Wie für die Vereinigten Staaten ist es auch für Europa lebenswichtig, die Freiheit in all ihren Formen zu verteidigen, einschließlich des freien Personen- und Warenverkehrs im Pazifik. Der zweite Grund ist Europa-spezifischer. Die Union und ihre Mitgliedstaaten müssen sich der Tatsache bewusst werden, dass die Europäische Union de jure (La Réunion und Mayotte) oder de facto (Französisch- Polynesien, Neukaledonien, Iles Eparses usw.) eine „Macht“ im Pazifik ist.

Wenn diese Prämissen richtig sind, schließt sich Folgendes an:

Das von den Nato-Mitgliedsstaaten gesetzte Ziel, zwei Prozent ihres jeweiligen Haushalts für die Verteidigung aufzuwenden, kann nicht als eine Laune oder Fixierung der USA angesehen werden. Vielmehr handelt es sich um eine logische Konsequenz aufgrund der Notwendigkeit für die USA, beträchtliche Verteidigungsmittel für die strategische Priorität bereitzustellen, dessen Epizentrum sich nun im Pazifik befindet.

Diese Verschiebung des weltweiten strategischen Schwerpunkts und die Veränderung in der Hierarchie der politisch-militärischen Prioritäten der USA sollten die Union dazu veranlassen, ihre autonomen Interventions-Fähigkeiten zu stärken, um auf die Bedrohungen ihrer Sicherheit in ihrer Nachbarschaft (Naher Osten, Kaukasus und Maghreb) reagieren zu können. Angesichts des in den letzten Jahrzehnten erfolgten Scheiterns aller Initiativen zur Integration diplomatischer und militärischer Instrumente auf nationaler Basis kann diese unerlässliche europäische Sicherheitspolitik nur auf gemeinsamen politischen, diplomatischen und militärischen Instrumenten basieren, ausgehend von und um eine gemeinsame europäische Armee.

Die Verlagerung des Mittelpunkts der Sicherheitsbedrohung sollte dazu führen, dass die Nordatlantikpakt-Organisation durch ihre Erweiterung um die demokratischen Länder des Pazifiks – insbesondere Japan, Australien, Indonesien, Südkorea und Neuseeland – zur Allianz zur Verteidigung der Freiheit wird. Die Frage nach der Mitgliedschaft der Türkei in dieser neuen internationalen Sicherheitsorganisation sollte gestellt werden.

Ohne ein neues – ob amerikanisches oder europäisches – Pearl Harbour abzuwarten, sollte – angesichts der neuen strategischen Bedrohung im Pazifik – schließlich auch die Frage nach der Beteiligung der Union an den politischen und militärischen Anstrengungen behandelt werden. Wenn Europa – und nicht nur einer seiner Mitgliedsstaaten -, tatsächlich ein Akteur im Pazifik ist, sollte es sich selbst die Mittel geben, um sich an den politischen und militärischen Bemühungen zur Erhaltung der Freiheit in diesem Teil der Welt zu beteiligen, wie von John R. Bolton 2 vorgeschlagen wurde. Angesichts des Ausmaßes der Herausforderung wäre es im besten Interesse aller Europäer, dass eine Beteiligung koordiniert erfolgt, durch eine gemeinsame Sicherheitspolitik und ein gemeinsames Instrument: Eine gemeinsame europäische Armee.

Übersetzung: Julia Heinemann

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Notes:

  1. Nach dem von der Russischen Föderation unterstützten Krieg zwischen Georgien und Südossetien im Jahr 2008 ratifizierten die russischen Streitkräfte die Abtrennung der südossetischen und abchasischen Gebiete Georgiens, indem sie deren Unabhängigkeit anerkannten und sie folglich in eine Logik der immer weiter fortgeschrittenen Integration in den russischen Sicherheitsraum stellten. Nun sind sie nur noch wenige Kilometer von der Baku-Tiflis-Schwarzmeer- bzw. Erzurum-Gaspipeline entfernt.
  2. Ehemaliger Nationaler Sicherheitsberater von George W. Bush, 2001-2005.

4 thoughts on “Europas strategischer Selbstmord

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