Die Ukraine, der Westen und Europa

Einfrierung des NATO-Beitritts und sofortige Eröffnung der Beitrittsverhandlungen zur Europäischen Union

In English  En Français In Italiano

Wenn man die Definition zugrunde legt, die der Duden für „Plan“ gibt, nämlich „Vorstellung von der Art und Weise, in der ein bestimmtes Ziel verfolgt, ein bestimmtes Vorhaben verwirklicht werden soll“, irrt sich Mark Galeotti, wenn er sagt „der Kreml weiß wahrscheinlich ebenso wenig wie wir, ob es einen Plan für eine Invasion in der Ukraine gibt1. Selbst wenn Präsident Putin nicht weiß, „ob“ und „wann“ er in der Ukraine eingreifen wird, bleibt eine Invasion eine Möglichkeit, auf die er in Abhängigkeit von den Umständen und Erfordernissen zurückgreifen könnte, und deshalb hat man eine ziemlich genaue Vorstellung von einer solchen.

Die Opfer, die ein Krieg auf russischer Seite fordern könnte, die Widerstandskraft der Ukraine, die Unsicherheit bezüglich der Reaktion der öffentlichen Meinung in Russland und die Auswirkungen neuer internationaler Sanktionen zählen zu den Elementen, die eine Invasion aus Sicht des Kosten-Nutzen-Verhältnisses problematisch machen. Allein dadurch, dass diese Option existiert, trägt sie aber zur Stärkung der Alternative bei, die der Kreml unserer Meinung nach vorzieht, nämlich die allmähliche Destabilisierung der Ukraine, die letztendlich zu deren Vasallisierung führen würde.

Der russische Präsident Putin beabsichtigt unserer Meinung nach eindeutig, „wieder die Kontrolle über die Ukraine zu übernehmen“. Die Erklärung für diese Absicht – und diese Entschlossenheit – des Kremls ist nicht in erster Linie das Risiko einer Verbreitung der Demokratie, das von einer demokratischen, prosperierenden Ukraine ausgehen würde. Für Wladimir Putin wäre die Reintegration der Ukraine in den Einflussbereich Moskaus schlichtweg der Höhepunkt seines Lebenswerks: die Wiederherstellung eines Russlands mit denselben Grenzen wie das ehemalige Kaiserreich.

Im Übrigen zeigt alles an der Umsetzung von Putins „großem Werk“, dass der russische Präsident sämtliche Eigenschaften eines besessenen, entschlossenen und geduldigen Beutejägers aufweist. Mit dem Attentat, das den tschetschenischen Präsidenten Akhmat Kadyrov das Leben kostete, endet im Mai 2004 der fünf Jahre zuvor eingeleitete Prozess, erneut die Kontrolle über Tschetschenien zu übernehmen. Vier Jahre später, im August 2008, drei Jahre nach der Rosenrevolution, bringt sich Putin bei den Georgiern in Erinnerung, indem er de facto Südossetien annektiert und sich seine Truppen bis auf wenige Kilometer der Gaspipeline zwischen Baku und Ceyhan und der georgischen Hauptstadt Tbilissi nähern. Im Jahr 2010, fünf Jahre nach der Orangen Revolution, übernimmt er mit der Wahl von Wiktor Janukowytsch zum Präsidenten der Republik in der Ukraine wieder die Kontrolle. 2014 reagiert er auf die Überraschung, die die Revolution der Würde für ihn darstellte, mit der Annexion de jure der Krim und de facto eines Teils des Donezbeckens. Parallel dazu treibt Putin die allmähliche Vasallisierung Weißrusslands voran, indem er die rot-weiße Revolution im Jahr 2020 nutzt, um jeglichen Rest von Unabhängigkeitsstreben des Präsidenten Lukaschenko zu unterdrücken. 2021 nutzt er schließlich den Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien, um seine Truppen in Bergkarabach zu etablieren, also formell auf dem Staatsgebiet Aserbaidschans 2.

Dieses „Revival des Kaiserreichs“ ist aus unserer Sicht – um es gemäßigt auszudrücken – nicht besonders vernünftig. Aber im Gegensatz zu dem, was Angela Merkel im Jahr 2014 sagte, nämlich dass Putin „den Kontakt zur Realität verloren“ habe und „in einer anderen Welt“ lebe 3, ist das alles sehr rationell. Und diese Rationalität ist nicht allein dem russischen Staatschef zu verdanken und basiert nicht nur auf dessen „Psychologie“. Ihre Ursprünge liegen in der langen Geschichte Russlands, des Russlands der Zaren und Bolschewiken, und im Zerfall der Sowjetunion, der nicht als unvermeidliches Ende des bolschewikischen Abenteuers und zu ergreifende Gelegenheit, sondern als Katastrophe betrachtet wird, und zwar die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“, um es mit den Worten des Präsidenten der Russischen Föderation zu sagen. Dass sich das, was zunächst nur Gefühle und Ressentiments in weiten Bereichen des Establishments und der öffentlichen Meinung waren, in diese neue Rationalität verwandelt hat, haben wir Wladimir Putin, einem folgsamen Informationssystem und den Silowiki 4 zu verdanken. Anzuerkennen, dass diese Rationalität heute in Moskau vorherrschend ist, heißt noch lange nicht, dass man sie als legitim betrachtet, sondern lediglich als das, was sie ist: eine Realität.

Aus dieser Rationalität können aus offensichtlichen Gründen keine politischen Forderungen entstehen, deshalb nimmt sie die Form von Sicherheitsforderungen an. Die berühmten roten Linien: „Niet“ zum Beitritt der Ukraine (und Georgiens) zur NATO und in der jüngsten Zeit die Einrichtung von Zonen entlang der Kontaktlinie zwischen Russland und der Nato, in denen Einsatzübungen verboten sind, die Festlegung von Mindestabständen für die Annäherung von Militärschiffen und -flugzeugen, besonders in der Ostsee und im Schwarzen Meer, die Wiederaufnahme eines Dialogs zwischen den Verteidigungsministern zu Fragen im Zusammenhang mit der Grenze zwischen Russland und den USA und zwischen Russland und den NATO-Mitgliedern. 5

Man kann sich (unendlich) fragen, ob für die Russische Föderation tatsächlich eine Bedrohung vom Atlantik ausgeht, kann die nuklearen Abschreckungsvorrichtungen Russlands berücksichtigen oder nicht – für die Russische Föderation wird die NATO als ernste Bedrohung dargestellt, egal ob diese in Wirklichkeit imaginär oder wahrgenommen ist, ob es sich um eine rein instrumentale oder tatsächlich gespürte Bedrohung handelt.

Dem gegenüber steht die Ukraine, die das Recht hat, innerhalb ihrer Grenzen ein sicheres Leben zu gewährleisten, über ihr politisches System und ihre internationalen Verbündeten zu entscheiden. Diese Prinzipien rief US-Präsident Biden klar in Erinnerung und betonte insbesondere, dass die Entscheidung über eine NATO-Mitgliedschaft von dem Beitrittskandidaten und den Ländern getroffen wird, die bereits Mitglieder sind.

Die Europäische Union kann dem Beispiel des französischen Präsidenten folgen, der beteuerte, dass „die Europäer“ an diesem „festgefahrenen Konflikt leider nichts ändern können“ 6: Sie kann den Dingen einfach ihren Lauf lassen und beschließen, sich ganz auf die USA und auf politische (Sanktionen) und militärische Abschreckungsmaßnahmen zu verlassen. Das wäre allerdings eine komische Art, die strategische Autonomie Europas geltend zu machen!

Man kann sich damit trösten, hier wie Jean-Dominique Merchet „die Grenzen des geopolitischen Potenzials der Europäer in ihrem nahen Umfeld“ 7 zu sehen und die geostrategische Bedeutsamkeit der in der Vergangenheit in Europa getroffenen (schädlichen) politischen Entscheidungen verschweigen, unter denen der Bau der Gaspipeline Nord Stream 2 und auf der Basis mehr als vielseitiger politischer Kriterien die Weigerung Deutschlands, Rüstungsgüter an die Ukraine zu verkaufen, an erster Stelle stehen.

Man kann sich auch für einen restriktiven Ansatz entscheiden und die enorme Demonstration geostrategischen Potenzials vergessen, um die es sich bei der Erweiterung der Europäischen Union auf die Länder Mittel- und Osteuropas handelte. Genau dieses Potenzial fehlte ihr Anfang der 1980er Jahre, als sie nicht auf Politiker wie Marco Pannella hören wollten, die die Eröffnung von EU-Beitrittsverhandlungen mit Jugoslawien forderten, um das Schlimmste abzuwenden. 8

Denn selbst wenn es nicht zu einem offenen Krieg zwischen Russland und der Ukraine käme, der sich über die Grenzen der Ukraine hinaus ausbreiten könnte, hätte das Szenario einer allmählichen Destabilisierung Kiews verheerende Folgen für alle EU-Staaten. So sollte beispielsweise der Einsatz von Migranten als Waffe an der Grenze zwischen Belarus und Polen (400 km) durch den Vertreter von Minsk, der die jüngste Episode eines Hybridkriegs darstellt, übertragen auf eine vasallisierte Ukraine (2000 Kilometer Grenzen mit den EU-Mitgliedstaaten und Moldawien) diejenigen zum Nachdenken bringen, die sich – besonders in den Niederlanden 9 – nach dem Abschluss des Assoziierungsabkommens zwischen der EU und der Ukraine Sorgen machten, es würde eine massive Einwanderung von Ukrainern drohen, die in Wirklichkeit nicht erfolgte.

Wenn das die Elemente der schwer zu lösenden Gleichung sind, müssen die Ukraine und die NATO- und EU-Mitgliedstaaten eine Lösung vorschlagen, die im Rahmen des Möglichen die Forderungen Russlands berücksichtigt, ohne Zugeständnisse im Hinblick auf die Souveränität und die Sicherheit der Ukraine zu machen.

Die Umrisse eines „anspruchsvollen Dialogs mit Russland“ 10 und Entwurf eines Vorschlags

Wenn, wie es der französische Präsident am 10. Dezember erklärte, „ein anspruchsvoller Dialog mit Russland“ erforderlich ist, um „die Region zu befrieden“, und man dabei Kiew „zur Seite stehen“ muss, bleibt der Europäischen Union nichts anderes übrig, als einen Vorschlag auszuarbeiten, der dem angestrebten Ziel entspricht, nämlich für Frieden zu sorgen. Andernfalls wird sie nicht an einem echten Dialog teilnehmen, sondern lediglich eine deklamatorische Haltung einnehmen.

Hier sind zwei Organisationen betroffen, weshalb ein doppelter, gemeinsamer Vorschlag nötig wäre, der von der NATO und der Europäischen Union gleichzeitig kommen müsste.

Die NATO-Mitgliedstaaten würden vorschlagen, den Beitrittsprozess der Ukraine zur NATO für einen Zeitraum von zehn Jahren einzufrieren.

Nicht „eingefroren“ würden allerdings die gegenseitigen Beziehungen zwischen den NATO-Mitgliedstaaten und der Ukraine. Ebenso wenig wäre die Partnerschaft zwischen der NATO und der Ukraine in ihrer aktuellen Form betroffen, mit Ausnahme der Präsenz von NATO-Streitkräften in der Ukraine. Zum Ausgleich würde Russland seine Streitkräfte aus Belarus abziehen. Des Weiteren würde dieses Einfrieren im Falle eines neuen Gewaltstreichs Russlands in der Ukraine automatisch hinfällig. Letztendlich gäbe es auch eine Klausel, die ausdrücklich besagen würde, dass die NATO-Mitglieder nach Ablauf des Zehnjahreszeitraums den Beitrittsantrag der Ukraine unter Berücksichtigung des zukünftigen Verhaltens der Russischen Föderation gegenüber der Ukraine – einschließlich der ukrainischen Gebiete, die derzeit besetzt oder annektiert sind – untersuchen werden.

Im Gegenzug würden die Mitgliedstaaten der Europäischen Union „gleichzeitig“ – um es mit den Worten des französischen Präsidenten zu sagen – beschließen, sofort die Verhandlungen über den EU-Beitritt der Ukraine zu eröffnen.

Die Eröffnung der EU-Beitrittsverhandlungen würde nicht nur eine Reaktion auf weitere Sanktionen im Falle eines neuen Gewaltstreichs Russlands, die von US-Präsident Biden und dem US-Außenministerium angekündigt wurden, ermöglichen, sondern auch auf die andere Bedrohung, die schleichender ist als diejenige eines offenes Konflikts, nämlich eine allmähliche Destabilisierung der Ukraine durch Russland. Die Kampagne zur Schwächung von Präsident Zelensky und des ehemaligen Präsidenten Petro Poroschenko und das immer größere Konfliktpotenzial der ukrainischen Oligarchen sind in diesem Zusammenhang besonders beunruhigende Signale. Die Verhandlungen über den Beitritt zur Europäischen Union würden es ermöglichen, einen engen, verbindlichen Terminplan für die durchzuführenden Reformen zu erstellen und würden so zur Konsolidierung und Stabilisierung des ukrainischen Staates beitragen.

Natürlich wäre die Koinzidenz der beiden Entscheidungen wichtig, ebenso wie die Fristen für die Umsetzung eines solchen Vorschlags. Das Drohverhalten Russlands – egal ob es als Auftakt zu einem neuen Gewaltstreich Russlands oder als Bestandteil eines umfassenderen Szenarios der allmählichen Destabilisierung der Ukraine betrachtet wird – schafft paradoxerweise eine Gelegenheit, den Rechtsstaat und die Demokratie in der Ukraine zu festigen.

Sind die Mitgliedstaaten der Europäischen Union bereit, ihre Politik des „Nyet“ zu allem aufzugeben und diese Chance zu nutzen?

 

Übersetzung: Angela Eumann | Voxeurop

Email to someoneShare on Facebook0Google+0Share on LinkedIn0Tweet about this on Twitter0share on Tumblr

Notes:

  1. „Kremlin Unlikely to Know Any More Than Us if Invasion Is Coming to Ukraine“, Mark Galeotti, The Moscow Times, 23. November 2021
  2. Der Vollständigkeit halber müsste diese Liste darüber hinaus die politischen und militärischen Operationen Russlands in Syrien, Libyen und über die Wagner-Gruppe in etwa zehn afrikanischen Staaten einbeziehen.
  3. La Libre, 3. März 2014, „Merkel: Poutine a perdu tout contact avec la réalité »
  4. Silowiki: Der Begriff ist abgeleitet vom russischen Wort für Stärke und bezeichnet Vertreter von Geheimdiensten, Polizei, Militär usw.
  5. Kommuniqué des russischen Außenministeriums, 11. Dezember 2021
  6. „Ukraine : Emmanuel Macron et le chancelier Scholz tentent de faire bonne figure“, Jean-Dominique Merchet, L’Opinion, 10. Dezember 2021
  7. Jean-Dominique Merchet, ebd.
  8. Marco Pannella, Europäisches Parlament
  9. Diese Überlegung sollte auch einbeziehen, dass es unangebracht ist, Fragen zu internationalen Beziehungen zum Referendum vorzulegen, was den Mitgliedern der Verfassungsgebenden Versammlung in Italien 1946 durchaus klar war, als sie diese Fragen ausdrücklich von den Themen ausschlossen, über die ein Referendum abgehalten werden kann.
  10. Jean-Dominique Merchet, ebd.

3 thoughts on “Die Ukraine, der Westen und Europa

  1. Pingback: Ukraine, the West and Europe - L'Européen

  2. Pingback: L'Ucraina, l’Occidente e l’Europa - L'Européen

  3. Pingback: L'Ukraine, l'Occident et l'Europe - L'Européen

Laisser un commentaire

Votre adresse de messagerie ne sera pas publiée. Les champs obligatoires sont indiqués avec *