Europäische Union : Dreizehn leere Stühle für die Ukraine

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Ein Vorschlag gegen den deutsch-französischen Boykott des Beitritts der Ukraine zur Europäischen Union

Deutschland und Frankreich lehnen es weiterhin ab, der Ukraine den Status eines EU-Kandidatenlandes zu gewähren. Da diese Position durch keine ernsthaften politischen Argumente gestützt wird, sollten die EU-Mitgliedstaaten, die dafür sind, die Strategie des « leeren Stuhls » von Charles de Gaulle übernehmen und nicht an den Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs teilnehmen.

VoxEurop, 15 Juni 2022

Die Entscheidung, der Ukraine den Status eines Beitrittskandidatenlandes zu verleihen, stellt einen unumgänglichen Schritt auf dem Weg zur Schaffung einer gewissen strategischen Autonomie der Europäischen Union dar, da sie von einem echten Willen der EU-Mitgliedstaaten zeugen würde, ihre im Wesentlichen national geprägten strategischen Haltungen aufzugeben, um einen gemeinsamen europäischen Ansatz zu suchen. Der Konjunktiv ist leider angebracht, seit Mario Draghi, der italienische Ratspräsident, am 31.

Mai erklärte: „Der Kandidatenstatus (der Ukraine) wird von fast allen großen EU-Staaten in Frage gestellt – von allen, würde ich sagen, mit Ausnahme Italiens. Der Kandidatenstatus ist derzeit aufgrund des Widerstands dieser Länder nicht möglich – sich einen schnellen Weg vorzustellen, wäre allerdings möglich. Und es scheint mir, dass selbst die Kommission damit einverstanden ist“.

Die großen EU-Staaten, also Deutschland und Frankreich, schlagen einen schnellen Weg zum Beitritt der Ukraine zur Union vor, weigern sich aber, ihr den Status eines Kandidatenlandes zu gewähren, der den Ausgangspunkt für jeden Beitrittsprozess darstellt. Das ist grotesk.

Diese zwei Staaten allerdings – Deutschland und Frankreich – tragen eine besonders schwere Verantwortung an der ukrainischen Tragödie. Sie waren es, die 2008 ihr Veto gegen den Beitritt der Ukraine zur NATO einlegten. Sie waren unter der Schirmherrschaft von Bundeskanzlerin Merkel und Präsident Hollande, die Garanten des Minsker Abkommens vom 15. September 2014. Zusammen mit Mark Rutte waren sie die Architekten einer Politik, die jede konkrete Aussicht auf eine Mitgliedschaft der Ukraine in der EU auf den Sankt Nimmerleinstag verschob. Auch die Revolution der Würde im Jahr 2014 änderte daran nichts.

Deutschland steht zudem hinter den politischen Abwegen von Nord Stream 2, obwohl diese von den mittel- und osteuropäischen Ländern stets klar benannt wurden. Frankreich verdankt man schließlich – durch seinen nationalen Champion „Total“ – gigantische Investitionen in Russland. Eine echte Staatsaffäre, wenn man das vielsagende Schweigen der Medien und die geringe Bereitschaft der politischen und juristischen Behörden in Frankreich bedenkt, den Fall Margerie 1 aufzuklären, obwohl die Umstände des „Unfalls“, bei dem der Konzernchef ums Leben kam, Anklänge an die Machenschaften russischer Geheimdienste erkennen ließen.

Die zentrale Rolle, die das stille Einvernehmen dieses deutsch-französische „Kondominiums“ in den letzten zwei Jahrzehnten in der Europäischen Union gespielt hat, zeigt sich bis hin zur Auflistung der Rüstungsexporte nach Russland seit 2014, und dies trotz des Embargos, das die Union nach der Annexion der Krim im Jahr 2014 verhängt hatte. Deutschland und Frankreich teilen sich den Löwenanteil: 80 % der Gesamtausfuhren aller EU-Mitgliedstaaten 2.

Ganz zu schweigen von den unzähligen Telefongesprächen, die Bundeskanzler Scholz und Präsident Macron mit dem Schlächter von Moskau führten, dem störrischen Beharren des Präsidenten Macron, Russland nicht zu demütigen. Als ob Russland andere bräuchte, um gedemütigt zu werden! Die Vergewaltigungen, auch von Kindern, die Morde und Folterungen und anderen Übergriffe, die von den russischen Truppen begangen und vom Kremlherrn „abgesegnet“ wurden, die Deportationen von Hunderttausenden Ukrainern, die massive Zerstörung der zivilen Infrastruktur, die unzähligen Verstöße gegen das Kriegsrecht stellen die wahre Demütigung des russischen Volkes dar.

Es wird zweifellos einige Jahrzehnte dauern, bis sich das russische Volk von dieser selbstverschuldeten Demütigung reinwaschen kann. Vorher und so schnell wie möglich muss Russland den Krieg verlieren und seine Armee aus dem gesamten ukrainischen Territorium abziehen.

Diejenigen in Berlin und vor allem in Paris, die glaubten, sie könnten ihr einvernehmliches Kondominium ohne Vision und ohne Perspektive, außer einigen Arrangements mit dem Aggressor im Stile eines „Maréchal Pétain“ bis in alle Ewigkeit fortsetzen, sehen sich zum ersten Mal einer organisierten Opposition gegenüber: 13 Mitgliedstaaten der Union 3 haben deutlich gemacht, dass in ihren Augen die derzeitige Priorität der Union nicht in der Reform der Verträge, sondern in der Ukraine-Frage, einschließlich der Anerkennung des Beitrittskandidatenstatus für die Ukraine bestehe. Auf eine besondere Art auch eine Erinnerung, dass die Festlegung der Modalitäten und der Dauer des Beitrittsprozesses nicht in den Händen der Mitgliedstaaten, sondern der Europäischen Kommission und des Beitrittskandidaten selbst liegt. Die Rolle des Rates und des Europäischen Parlaments besteht darin, auf der Grundlage der Berichte der Kommission den Fortschritt des Prozesses zu bewerten und an dessen Ende die endgültige Bewertung der Kommission zu bestätigen oder zu verwerfen.

Die politische Entscheidung, die der Europäische Rat im Juni 2022 treffen muss, ist daher kristallklar – der Ukraine den Status eines Kandidatenlandes zuzuerkennen oder nicht.

Offensichtlich hat das deutsch-französische Kondominium über die Europäische Union dies immer noch nicht begriffen, ebenso wenig wie es die neue Situation bemerkt hat, dass sich innerhalb der 27 EU-Staaten eine neue, starke Sperrminorität herausgebildet hat.

Um der Einsicht der deutschen, französischen und weitere Verfechter der petainistischen Option auf die Sprünge zu helfen, wären die oben genannte 13 und andere Mitgliedstaaten gut beraten, schon jetzt anzukündigen, dass sie ohne eine positive Entscheidung über die Gewährung des Beitrittskandidatenstatus für die Ukraine, gezwungen wären, auf die von General de Gaulle erstmals eingeführte Praxis des leeren Stuhls 4 zurückzugreifen, anders gesagt, dass sie an den nächsten Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs nicht teilnehmen werden.

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Notes:

  1. Christophe de Margerie, Vorstandsvorsitzender von Total und drei Besatzungsmitglieder verstarben am 20. Oktober 2014 in Moskau bei einem Flugzeugunfall während des Startvorgangs auf dem Flughafen
  2. Zehn europäische Staaten haben nach dem Embargo von 2014 Waffen nach Russland exportiert. https://www.investigate-europe.eu/fr/2022/dix-etats-europeens-exporte-armes-russie-embargo-2014/
  3. Non-paper entwickelt von Bulgarien, Kroatien, Dänemark, Estland, Finnland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, der Tschechischen Republik, Rumänien, Slowenien und Schweden., vorgestellt am 9. Mai 2022 https://www.government.se/information-material/2022/05/non-paper-by-bulgaria-croatia-the-czech-republic-denmark-estonia-finland-latvia-lithuania-malta-poland-romania-slovenia-and-sweden/
  4. Die Blockade der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft durch Charles de Gaulle vom 30. Juni 1965 bis zum 30. Januar 1966 als Konsequenz der Vorschläge der Kommission unter Vorsitz von Walter Hallstein, die die Einführung des Mehrheitssystems bei den Entscheidungen des Ministerrats vorwegnahm und auf diese Weise eine Reform der gemeinsamen Agrarpolitik möglich machte.

5 thoughts on “Europäische Union : Dreizehn leere Stühle für die Ukraine

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  4. D’après Aristote, la tragédie comprend cinq actes. Dans l’histoire de l’Ukraine, nous nous trouvons à la péripétie au moment où tout est encore possible.
    Vous allez trop vite en appelant cela une tragédie. Patientez! Je parie sur un déroulement positif. Avec Selenskyj comme acteur à l’affiche, mais le metteur en scène à Moscou et la production made in Washington, vous accusez à tort les critiques à Berlin et à Paris d’être les responsables du drame.

    • Ceci dit : le scénario ukrainien remplit les salles et les quelques chaises inoccupées sont celles des absents dont on dit qu’ils auraient tort.

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